Welt am Sonntag: 17.10.10 Kussmaul für 500 000 Euro
Sie sind ungewöhnlich sensibel, ungewöhnlich groß, ungewöhnlich schlau und ungewöhnlich teuer: Japanische Karpfen. Ab Oktober beginnt die Hochsaison für die Koi-Gemeinde - in Japan wie in Europa Von Martin Kölling
Bei Hajime Isa im Karpfenteich haben die Götter den Pinsel geführt. Wie fernöstliche Kalligrafien schwimmen dutzende japanische Zierkarpfen in den Betonbecken von Isas Fischfarm in den Bergen Niigatas, einer Präfektur 200 Kilometer nördlich von Tokio. Bei einem blütenweißen Fisch haben die Gene einen orangeroten Kreis auf die Stirn getupft, bei anderen schwarze Muster auf die Haut getuscht. "Schwimmende Juwelen" nennen Liebhaber die Fische. Behutsam hebt Isa mit einem mächtigen Käscher einen der Prachtkarpfen an die Oberfläche. "Unter denen hier ist dieser der Beste", sagt er. 500 000 Yen, 4400 Euro, würde der kosten.
Aber das ist noch nichts verglichen mit Spitzenkarpfen, die Isa für 30 Millionen Yen oder 260 000 Euro verkauft. Für die Sieger der Koi-Ausstellungen blättern Sammler aus aller Welt sogar das Doppelte auf den Tisch. Dieter Bohlen ist stolzer Koi-Besitzer. Bei "Queen"-Sänger Freddy Mercury schwammen sogar 89 Stück im eigens angelegten japanischen Garten.
Isa, drahtig, Kettenraucher, hat das Glückslos bereits gezogen. Er ist einer der weltweit bekanntesten Züchter für Koi, oder ganz korrekt Nishikigoi, wie die Schuppentiere genannt werden. 2009 gewann sein Karpfen den Großmeisterpreis.
"Koi sind eine Kunstform", sagt James Kinney, Sergeant der Polizei auf Honolulu und Präsident der "Aloha Koi-Liebhaber Vereinigung Hawaii". Einmal pro Jahr pilgert er wie Tausende Koi-Fans, -Händler und -Züchter aus Europa, Amerika und anderen Winkeln der Welt nach Ojiya und in den Nachbarort Yamakoshi. Hier in der Abgeschiedenheit Niigatas begannen einfache Bauern vor etwa 200 Jahren, vereinzelte Launen der Natur zu farbenfrohen Prachtkarpfen zu züchten. Hier, im globalen Atelier der Koi-Kunst, zahlen sie ihren Tribut, ein jeder auf seine Weise. Anzeige
Kinney kniet am Teich im Koi-Museum in Ojiya und füttert die Tiere liebevoll mit Eiswaffeln. Zutraulich recken die Fische ihre weit geöffneten Mäuler aus dem Wasser. "Ein Rembrandt ist auch teuer, aber hängt nur an der Wand. Ein Koi lebt, schwimmt umher und verändert sich ein Leben lang", sagt Kinney. Die Investition lohnt sich auch noch für die Kinder und Kindeskinder des "Koi-kichi", wie sich die Koi-Liebhaber auf aller Welt nennen. Gut gefüttert werden die Fische 70 bis 80 Jahre alt. Der älteste Karpfen soll sogar mehr als 200 Lenze zählen.
Zahm und gesellig seien die Tiere und obendrein herrlich anspruchsvoll, schwärmt eine zunehmende Zahl an Fischverrückten in deutschen Foren. In dieser Welt sind Karpfenmäuler zum Küssen da, die Fische nicht nur Fische, sondern Freunde fürs Leben.
Für Japaner ist der Fisch freilich noch mehr. "Viele Züchter sagen, Nishikigoi sind ein Geschenk der Götter", sagt der Tokioter Internetunternehmer Yoshi Takada, der als Gründer und Generalsekretär des gemeinnützigen Internationalen Nishikigoi Promotionszentrums die Züchter aus Niigata im weltweiten Vertrieb unterstützt. Für Takada verkörpert sich in den Fischen die Urseele Japans. "Die Züchter pflegen noch die alte Lebensweise Japans", schwärmt der Großstädter: Gemeinsinn, Akzeptanz des Schicksals und das Streben nach Exzellenz.
Bei den 600 Teil- und Vollzeitzüchtern in Niigata handele es sich fast ausschließlich um Familienbetriebe, die sich gegenseitig helfen und nach außen als geschlossene Gemeinde auftreten, erzählt Takada. "Sie beschweren sich auch nicht, wenn die Natur sie hart trifft." Nachdem vor sechs Jahren das Niigata-Erdbeben ihre Häuser, Teiche und fast die gesamte Zucht zerstörte, bauten sie ihre Existenz wieder auf. Doch vor allem personifizieren die Züchter für Takada die Tugend des japanischen Handwerks, die Japan zum Qualitätsführer in der Welt gemacht hat: "Sie wollen immer das beste Stück schaffen."
Sie streben nach Perfektion und sie sind religiös, die Bauern von Niigata. Shinto, Japans Naturreligion, ist tief in ihrem Leben verwurzelt, wie ein Besuch bei Züchter Isa zeigt. "Herzlich willkommen!", ruft seine Frau und führt die Gäste in ein japanisch eingerichtetes Empfangszimmer. Auf den Tatamis (Reisstrohmatten) steht ein nicht ganz kniehoher Holztisch. Eine Kalligrafie hängt im Alkoven, eine traditionelle schmuckvolle Puppe im Brokat-Kimono ziert die Wand. Und über allem thront ein kleiner Schrein, vor dem Isa täglich betet. Nur ein riesiger Flachfernseher erinnert Besucher daran, sich im 21. Jahrhundert zu befinden.
Shinto, wörtlich übersetzt "der Weg der Götter", sieht die ganze Welt als beseelt an. Jeder Berg, jeder Fluss beherbergt eine Gottheit. Selbst in Steinen, Produkten und abstrakten Gegenständen sehen die Menschen göttlichen Geist. Die japanische Besessenheit fürs Detail, die Perfektionierung des Produkts - egal ob Auto oder Karpfen - wird damit zum Gottesdienst. Im Handeln kann niemand die Götter oder die Natur belügen, so glauben die Menschen.
Auch Isa ist rigoros beim Götterdienst. Er hat etwa 200 Mutterkarpfen, von denen etwa 20 derzeit laichen. Jeder Fisch legt 150 000 bis eine Million Eier. Doch von tausend Baby-Koi wähle er nur einen aus, sagt er. Der Rest sei Fischfutter. Um die heranwachsenden Gotteswerke vor Feinden zu schützen, hat Isa die Babystube in eine Art Gewächshaus verlegt. Später dürfen sie sich dann in einem von Isas 80 zu Teichen ausgebaggerten Reisfeldern in den Bergen der Umgebung tummeln. Ab Oktober gibt es dann das bei "Koikichi" äußerst beliebte "Ikeage", das "aus dem Teich heben". Vorsichtig werden die Fische per Hand aus den Teichen auf Tankwagen verbracht und zum Überwintern in die überdachten Betonaquarien verlegt - oder in alle Welt ausgeflogen.
"Für uns ist das hier das Mekka", sagt Jeroen Van Keulen, einer der größten Koi-Händler Europas. Dreimal pro Jahr klappert er die Pinselhalter der Götter ab, um seine Aquarien in Holland mit Ware zu füllen. Denn hier in Ojiya und Yamakoshi startete die Zucht, hier ist sie noch immer zu Hause. 80 Prozent der 800 Züchter Japans sind in Niigata beheimatet. Fast jeder preisgekrönte Nishikigoi stammt aus hiesigen Gewässern.
Die Gründe für die Weltvorherrschaft sind, wenn man Shigeo Tanaka, dem Inhaber der Maruju-Koi-Fischfarm, folgt, verblüffend einfach: die Lage und Langeweile. Früher, bevor die Autobahn und der Shinkansen-Schnellzug Niigata in einen Naherholungsort Tokios verwandelt haben, sei dies eine der entlegensten Regionen Japans gewesen, erzählt Tanaka, der mit Kunden aus ganz Japan gemütlich grünen Tee trinkt und plauscht. Besonders im Winter. "Weniger als zwei Meter Schnee haben wir eigentlich nie", so Tanaka.
Für Monate saßen die Bauern fest. Dann setzten sie die Karpfen in den Reisfeldern aus. Rote Tupfer auf weißem Schnee - und die Fische bekamen ihr Eiweiß. Vor etwa 200 Jahren reagierten die Karpfen auf das einmalige Reizklima Niigatas, das Schneereichtum mit relativ warmen Temperaturen kombiniert, plötzlich vermehrt mit Mutationen. Sie zeigten bunte Muster.
Damals waren den verwöhnten Hauptstädtern die Karpfen auf dem Teller noch lieber als im Teich. Die armen Bauern dagegen erfreuten sich im langen Winter an den Farben. "Dann ist die Welt hier monochrom, alles ist weiß", sagt Tanaka, "als unsere Vorfahren dann die bunten Fische sahen, hielten sie sie für sehr kostbar und bewahrten sie auf." Und weil sie nichts anderes zu tun hatten, kreuzten sie die besten Tiere und züchteten so verschiedene Linien. Auch der vor rund 100 Jahren aus Deutschland importierte schuppenlose "deutsche Karpfen" wurde mühelos integriert.
Im 19. Jahrhundert traten die bunten Schuppentiere aus den Bergen Niigatas dann ihren globalen Siegeszug an. Zuerst verbreiteten reisende Händler die Prachtfische in Japan, wo sie sich schnell einen Platz im Herzen der Japaner eroberten. Sie symbolisieren Friedfertigkeit, weil die alten Fische ihre Nachkommen nicht fressen, sondern lieber Stärke schlucken.
Alten Sagen zufolge schwimmen die Koi Wasserfälle hinauf und verwandeln sich dabei in Drachen. "Die Fische sind die Boten der Drachen", sagt Internetunternehmer Takada. Noch heute hissen daher Familien mit männlichem Nachwuchs am 5. Mai, dem Knabentag, vor dem Haus oder auf Balkonen mit Karpfen bedruckte Windsäcke, die Koi-nobori. Und die Yakuza, Japans Mafiosi, lassen sich die Karpfen in grellem Rot-Weiß auf den ganzen Körper tätowieren.
Zum ersten Mal verließ ein Koi im Jahr 1924 das Land. Den richtigen Export-Schub brachte allerdings erst die Gründung der Gesellschaft der Koi-Liebhaber (ZNA) im Jahr 1962. Sie hat weltweit Standards für Zucht und Preisrichter, strikte Gesundheitskontrolle gegen Infektionen mit tödlichen Koi-Herpesviren und japanische Bezeichnungen durchgesetzt.
Einer der Chefs ist Keiichi Iwahashi, 84 Jahre alt. Er ist als ehemaliger Vizechef des Baukonzerns Kajima eine der grauen Eminenzen der Japan AG und Koi-verrückt. Auf seiner Veranda auf der vierten Etage eines Wohnblocks hat er sich für seine 30 Nishikigoi einen 20 Tonnen schweren Pool gebaut. Nun widmet er all seine Kraft der Expansion seines Verbands nach China. "2009 haben wir auch Gruppen in Shanghai und Beijing gegründet, nächsten Monat fahre ich nach Guangzhou", erzählt er.
Für die Züchter in Niigata ist dies ein Segen. "Die Chinesen kommen und kaufen für mehrere Hunderttausend Dollar Fische", sagt Iwashi "das treibt die Preise hoch." Er verrät ein Geheimnis: Schlichte, zwei Jahre alte Fische gibt es schon ab umgerechnet 250 Euro. Aber er mag es noch billiger - und kauft sie als Babys. "Am schönsten ist es, sie als kleine Fische zu kaufen und wachsen zu sehen."
Conny
_________________ Jedem Nachteil steht ein Vorteil gegenüber.
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